Raus aus der Komfortzone
Ich kralle meine beiden Hände in den Felsvorsprung über mir. Panisch versuche ich, die geeignete Route zu finden, bevor ich meine Füsse auch nur einen Millimeter weg vom sicheren Standplatz bewege. Doch irgendwie ist alles blockiert. Die Füsse wollen nicht, der Kopf will nicht. Mein Körper beginnt, ohne Kontrolle zu zittern. Die totale Blockade auf einem schmalen, steilen Grat, der auf der einen Seite einen 600 m tiefen Fall in den glitzernden Gjende und auf der anderen Seite einen eisigen Ausrutscher in den 300 m tiefer liegenden Bessvatnet garantiert. Wie bloss habe ich mich in diese Situation hineinmanövriert?
Dabei hat alles so harmlos begonnen. Auf Inspirationssuche nach möglichen Wanderzielen in Norwegen brachte mich Satu von Destination Unknown auf die Idee, einen Abstecher in den Jotunheimen Nationalpark zu machen. “There are some amazing hikes there, especially the 6h hike from Gjendesheim which name escapes me right now”, schrieb sie mir im Vorfeld.
Tönt gut, dachte ich und recherchierte den Namen der Wanderung, an dessen Namen sie sich spontan nicht mehr erinnerte. Schnell fand ich heraus, dass es sich hierbei um den „most popular hike in Norway“ handelte. Die sogenannte Besseggen Ridge zieht jährlich gemäss diversen Quellen bis zu 30‘000 Wanderer an. „Wahrscheinlich ist das eine Autobahn“, war mein erster Gedanke. Nach einem kurzen Blick auf Bilder der Route war mir die Popularität egal, denn wer kann schon Bergseen widerstehen…?
Die Bilder überzeugten mich sogar so stark, dass ich mir extra für den Abstecher nach Gjendesheim ein Auto mietete. Wer mich kennt, der weiss, dass sich das Autofahren weit ausserhalb meiner Komfortzone befindet. Während den Sommermonaten erreicht man Gjendesheim zwar mit dem öffentlichen Verkehr, aber wir waren exakt eine Woche zu früh dafür. Nun, das Autofahren meisterte ich nach dem üblichen Drama der ersten 30 Minuten mit erstaunlicher Bravour und erreichte Gjendesheim ohne nennenswerte Zwischenfälle.
Am Vorabend der Wanderung lasen wir noch verschiedene Routenbeschriebe der angedachten Tour. Für den Besseggen-Grat kann man entweder direkt in Gjendesheim starten und bis nach Memurubu wandern oder aber am Morgen mit dem Boot nach Memurubu fahren und dann zurückwandern (Vorteil: man ist nicht vom Schifffahrtplan abhängig). Wir entschieden uns für Letzteres. Was uns mehr beschäftigte, war die Schwierigkeit der Tour. Die Strecke beträgt rund 13 Kilometer, der höchste Punkt befindet sich auf 1‘750 m (Starthöhe rund 950 m ü. M.), die empfohlene Wanderzeit beträgt rund 5 bis 7 Stunden je nach Fitnesslevel. Zur Ridge selbst steht im Lonely Planet: „Besseggen Ridge is never less than 10 m wide and only from a distance does it look precarious“.
„Easy, das kann ich wohl nicht so schlimm sein. Wir kommen schliesslich aus der Schweiz und sind uns Berge gewohnt. Ist ja nicht meine erste Wanderung“, meinte ich zum Freund. Der hingegen schaute immer noch skeptisch.
Magisch – Gjendesheim am frühen Morgen
Der Tag der Wanderung startet friedlich. Spiegelglatt präsentiert sich der Gjende-See in den frühen Morgenstunden. Nach einem ausgiebigen Frühstück begeben wir uns auf das Boot, das uns nach Memurubu bringt.
Schiff ahoi – Fahrt nach Memurubu zum Start der Wanderung
Während der Hochsaison kann es hier schon mal zu längeren Wartezeiten kommen. Das Boot fährt dann einfach so oft, bis auch der letzte Wanderwütige ein Plätzchen findet. An diesem Juni-Wochenende hält sich der Ansturm trotz Kaiserwetter noch in Grenzen.
Höhenrausch
Nach 30 erfrischenden Minuten auf dem See erreichen wir Memurubu. Wir schultern unsere Rucksäcke und beginnen mit dem Aufstieg. Der erste Kilometer hat es in sich. Steil windet sich der Pfad dem Hang entlang in Richtung Grat. Ich komme bereits nach wenigen Minuten kräftig ins Schnaufen. Schritt für Schritt bewältigen wir die Höhenmeter, bis wir nach einer Stunde verschwitzt und ausser Atem das erste Hochplateau erreichen. Die Anstrengung ist jedoch beim Anblick des überwältigenden Panoramas der umliegenden schneebedeckten Gipfel und den tiefblauen Gjendesee (der eigentlich für seine smaragdgrüne Farbe bekannt wäre) schnell vergessen. Auch wenn die norwegischen Gipfel mit ihrer klobigen Erscheinung eigentlich nicht wirklich schön sind. Dass Jotunheimen übersetzt so viel wie „Heim der Riesen“ bedeutet, trifft den Nagel auf den Kopf. Im Vergleich zu den grazilen Dolomiten befinden wir uns hier in einer Landschaft, die in etwa so wirkt, als hätte ein Riese mit ein paar Steinklötzen gespielt.
Während den nächsten 1.5 Stunden führt der Weg in einem moderaten Auf und Ab über das Plateau. Der Ausblick über das Berggebiet ändert sich im Minutentakt. An manchen Stellen haben wir drei Bergseen gleichzeitig im Blickfeld.
Nach rund 3 Stunden erreichen wir das Ufer des Bessvatnet. Noch immer bin ich zuversichtlich, dass wir die Schlüsselstelle ohne Probleme bewältigen werden. „Die Mittagspause machen wir oben beim Gipfel“, sage ich zum Freund und beginne mit dem Aufstieg. Doch bereits nach wenigen Metern ist fertig lustig. Vor uns liegt kein markierter Weg mehr, sondern nur steil aufeinandergetürmte Felsbrocken. In der Zwischenzeit haben wir auch die Kamera vorsorglich in den Rucksack verpackt.
Mit Angstschweiss über den Besseggen-Grat
Was nun folgt, ist ein einstündiger Kampf gegen den Berg, die Höhenangst, die Tränen, den inneren Schweinehund und die schwarz auf weiss gedruckte Aussage „most popular hike“. Handgriff für Handgriff und Felsvorsprung für Felsvorsprung kämpfen wir uns den Grat hinauf. Hinter mir der Freund, der mir Schritt für Schritt sagt, wo ich meinen Fuss als Nächstes hinsetzen soll.
Doch manchmal schafft man Dinge, die man sich selbst nie zugetraut hätte. Geschafft! Oben angekommen, muss ich mich zuerst einmal hinsetzen und in die Tiefe blicken.
Durch die Mondlandschaft zurück in die Zivilisation
Für eine Verschnaufpause bleibt jedoch nur wenig Zeit. Wir befinden uns knapp in der Hälfte, der höchste Punkt liegt noch vor uns. Die nächste Etappe gleicht einem Spaziergang über eine Mondlandschaft. Hier oben gibt es nur etwas en masse – Steine. Grosse Steine, kleine Steine, runde Steine, eckige Steine und zwischendurch der Vogelblick auf Gjendesheim oder ein Schneefeld als willkommene Abwechslung.
Weiter unten begegnen wir noch einer Herde Rentiere, bevor wir wohlbehalten in die Berghütte zurückkehren. In der Zwischenzeit hatte ich etwas Zeit, das Erlebnis an der Besseggen Ridge zu verdauen. Dennoch frage ich direkt nach der Rückkehr beim Hüttenwart, ob eigentlich all die 30‘000 Wanderer hier quietschfidel den Grat hochtänzeln. Er hebt nur die Augenbraue und meint „ihr Schweizer mit euren verrückten Bergwegen seid bei uns am Berg an eure Grenzen gekommen!“ und ergänzt dann aber im nächsten Satz zu meiner Beruhigung, dass immer mal wieder Leute mit dem Helikopter rausgeflogen werden müssen. Auf das hin genehmigen wir uns in den letzten Sonnenstrahlen des Tages das wohlverdiente Besseggen Bier. Prost!
Infos und Tipps für die Wanderung über den Besseggen-Grat:
- In Gjendesheim kostet eine Übernachtung in einem Zimmer bis zu 3 Betten pro Person 350 NOK – Dusche und WC gibt es auf der Etage, Hüttenschlafsack empfehlenswert (kann auch vor Ort gemietet werden)
- Das Nachtessen in der Hütte kostet ebenfalls 350 NOK pro Person – sehr gute Küche!
- Frühstück gibt’s für 150 NOK
- Gjendesheim ist in den Sommermonaten (erst ab Ende Juni) mit dem Bus ab Otta und Oslo erreichbar
- Weitere Übernachtungsmöglichkeiten bestehen in Memurubu (ebenfalls DNT) und Gjendebu
- Die Seite der Norwegian Trekking Association bietet eine gute Übersicht über Berghütten und Wanderrouten
- Eine gute topografische Karte für die Routenplanung gibt es hier: DNT Turkart
Awwwhhhh. Was für großartige Bilder… Da will ich auch hin! Norwegen fehlt mir sowieso noch komplett… Danke für das Teilen deiner Eindrücke!
Bitte, hab mich gerne geopfert ;)
Norwegen steht ganz oben auf der Liste meiner Lieblingsländer. Um an meine Grenzen zu gelangen, musste ich allerdings keineswegs so weit reisen: Während es im Gewitter auf den Flanken des Pilatur bereits ein wenig heikel war, bin ich im heimischen Kletterwald vollends verzweifelt. Ich musste von einem zwölf Meter hohen Baum springen. An einer Zipline zwar, aber da hätte man mich um ein Haar auch evakuieren müssen.
Aus diesem Grund mache ich einen grossen Bogen um Seilparks :D – und klar, in den Bergen muss man mit solchen Situationen rechnen, nur würde eine solche Wanderung bei uns Blau-Weiss markiert sein und dann weiss ich im Vorfeld, dass ich beide Hände brauchen werde, um irgendwo raufzukraxeln.
Hallo Anita
Der steile Aufstieg hat sich ja dann doch noch gelohnt :) Die Fotos sind grossartig geworden.
Liebe Grüsse,
Simon
Ja zum Glück hat es sich gelohnt ;) vielen Dank Simon
Das Bier habt ihr euch auf jeden Fall verdient.
Und die Strapazen haben sich gelohnt, die Bilder sind der Wahnsinn!
LG
Manuela
Vielen lieben Dank Manuela :)
Wirklich großartige Fotos.
Es gefällt mir wie die Norwegen Schiff schreiben. :D
Danke Neni und ja, das fanden wir auch witzig :D
No surprise these images were amazing although the text escapes me! :) It was so good to have you for a visit here, let me know if you ever come again!
Thank you Satu we will for sure come back to Norway one day – it’s such an amazing country :)
Ich kann mich nicht entscheiden, wovon ich mehr begeistert bin: Ist es die Wanderung selber, die tollen Fotos oder dein grandioser Schreibstil?
Liebe Grüße!
<3 danke dir Timo!
Auf der Suche nach einer realistischen Wanderbeschreibung für Besseggen bin ich wieder auf deiner Seite gelandet. ‹Leider› sind die Bilder aber definitiv zu schön, um diese Wanderung nicht machen zu wollen. Und so werde ich wohl in 3 Wochen auch panisch da oben stehen und fluchen:) Merci für den tollen Bericht (und schön, geht es mit dem Autofahren auch andern so wie mir;)
Hoi Sabrina – nun ja, ich habe halt echt Mühe mit abschüssigen Stellen. Wenn dir das nichts macht, dann ist die Ridge nur halb so wild ;) Ich wünsche dir auf jeden Fall eine tolle Zeit in Norwegen und gutes Wetter für die Wanderung :)
Hello,
When did you did this hike ?
Beautifull pictures bye the way :-)
Regards,
Gert
Thank you Gert :) we were there last year in June 2014