«Anders ist auch schön», diese Erkenntnis nehme ich als Souvenir aus Le Havre nach Hause. Le Havre ist nämlich «anders» als so manche Stadt, die ich bisher besucht habe. Bei meiner Ankunft vor zwei Tagen lag Le Havre unter einer grauen Wolkendecke. Vom Bahnhof herkommend, tauchten bald die ersten massiven Betongebäude vor mir auf. Trist, grau, wüst. Nein, auf den ersten Blick ist Le Havre keine klassische Schönheit und gleicht optisch Plattenbauquartieren, die meist als Synonym für den missglückten Städtebau stehen. Doch in Le Havre wurde nicht plumper liebloser Plattenbau betrieben, sondern eine Stadt wiederaufgebaut, die die Wohnqualität ihrer Bewohner in den Vordergrund stellte. Die Schönheit von le Havre liegt einerseits im Detail und andererseits im grossen Ganzen.
Eine Betonstadt als UNESCO Weltkulturerbe
Mit einem Team von über 60 Architekten hat Auguste Perret als hauptverantwortlicher Stadtplaner im Zentrum von le Havre zwischen 1946 und 1954 über 100 neue Gebäude inklusive Kirche und Stadthaus errichtet. Der orthogonale Grundriss des neuen Stadtkerns hat Perret nach den Massen das Bassin de Commerce ausgerichtet und als Raster durchgezogen. Die neuen Gebäude wurden nach dem Prinzip des Massenwohnungsbaus mit Sichtbetonelementen erstellt. Herausragend sind nicht nur die Qualität des Betons und die verschiedenen Farbvariationen, sondern auch die neu geschaffene Wohnqualität. Perret wollte für alle Bewohner das Maximum an Licht, Luft und Sonne in die Wohnungen holen.
So richtig bewusst wird mir die besondere Qualität beim Besuch der Musterwohnung (Appartement Témoin), dessen Grundriss bis heute nichts an seiner Modernität eingebüsst hat. Eine Wohnung, in die ich am liebsten sofort einziehen würde. Seit die UNESCO den Stadtkern 2005 als bisher einziges Stadtensemble aus dem 20. Jahrhundert auf die Liste der Weltkulturerbe gesetzt hat, sind die Wohnungen wieder gefragt. Sowieso hat Le Havre dank dieser Nominierung durch die UNESCO eine Aufwertung und entsprechende Aufmerksamkeit erhalten. Verdient, wie ich finde. Noch selten hat mir ein Stadtspaziergang so viele neue Erkenntnisse über städtebauliche Qualitäten gebracht.
Das Meisterstück im Ensemble bildet die Kirche Saint-Joseph, deren Bau der Le Havrer Architekt Raymond Audigier nach Perrets Tod zu Ende führte. Die Kirche wurde 1957 fertiggestellt. Das beeindruckende Farbenspiel des Turms wurde von der Künstlerin Marguerite Huré in Zusammenarbeit mit Perret entworfen. Wer hätte gedacht, dass mich eine Betonkirche derart zu faszinieren vermag. Doch auch die übrigen Gebäude, die ich auf den ersten Blick nicht als «schön» eingestuft hätte, nehme ich im Kontext der Entstehungsgeschichte und mit den im Sonnenlicht schimmernden Farbnuancen des Betons anders war.
Le Havre hat sich für mich schnell als architektonische Wundertüte entpuppt. Die Vielfalt moderner Bauwerke ist mit Perrets Werk nicht abgehakt. Im Stadtkern setzt das Kulturzentrum «Le Volcan» von Oscar Niemeyer mit seinen weissen geschwungenen Formen seit 1982 einen gewagten Kontrast zu Perrets Bauten. Gemäss meiner Stadtführerin wurde auch dieses Gebäude lange von den «Havrais» verschmäht und als hässlich verspottet. Dank einer umfangreichen Renovation mit Integration einer Mediathek wurde das Gebäude vor zwei Jahren rehabilitiert. Der Abstecher in die Mediathek lohnt sich übrigens nicht nur, wenn man kostenloses WLAN sucht, sondern auch wegen der tollen Gestaltung des «kleinen Vulkans».
Le Havre und die Impressionisten
1962 wurde der neu geschaffene Stadtkern mit einem kühnen Bauwerk komplettiert. Das Atelier LWD designte das Musée d’art moderne André Malraux (MuMa), das die zweitgrösste Sammlung impressionistischer Werke in Frankreich beherbergt. Mich hat begeistert, wie selbstverständlich sich dieser Bau in die Perret-Wohnblöcke rundherum eingliedert und trotz der 50 Jahre auf dem Buckel wie ein moderner Neubau wirkt. Die lichtdurchflutete Front ist zum Meer hin ausgerichtet. Ich wage zu behaupten: Auch wer sich null für den Impressionismus interessiert, wird sich für dieses Museum begeistern können. Ein schlichter, wunderschöner Museumsbau.
Dieses Jahr findet in der Normandie zum dritten Mal das Impressionismus-Festival statt. Das MuMa widmet seine aktuelle Ausstellung dem Bilderuniversum von Eugène Boudin. Unweit des Museums befindet sich die Stelle, wo Boudin den Leuchtturm in seinem «Coup de Vent devant Frascati» einst auf die Leinwand brachte. Auf dem impressionistischen Spaziergang von Le Havre nach Sainte-Adresse lässt sich mittels Informationstafeln und dazugehörender App eine Zeitreise in die Ära von Boudin und Monet unternehmen. Spannend, wie sich einzelne Sujets bis heute halten konnten und wie die Landschaft an manchen Stellen durch Menschenhand total verändert wurde.
Altes bewahren oder neue Wege wagen?
2017 wird Le Havre sein 500-jähriges Stadtjubiläum feiern. Die grösste Stadt der Normandie ist eine junge Stadt und wurde ursprünglich an strategisch geschickter Lage an der Seine-Mündung als Kriegshafen gebaut. Heute hat Le Havre nach Marseille die zweitgrösste Hafenanlage Frankreichs. Aufgrund der Zerstörung grosser Stadtteile gegen Ende des 2. Weltkrieges gibt es nur noch wenige Bauten, die einen Teil des historischen Le Havre widerspiegeln. Symbol für diese Zeit ist die Kathedrale Notre-Dame aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Ein Blick hinein lohnt sich. Der Säulengang wird dem klassischen Begriff der Schönheit mehr als gerecht. Zudem wehrte sich ein Teil von Le Havre gegen die Bauten von Auguste Perret. Das Quartier Saint-Francois zwischen Bassin de Commerce und Hafenanlagen wurde im Stil der Vorkriegsbauten mit Backsteinen wiederaufgebaut und zeigt exemplarisch, wie das Erscheinungsbild von Le Havre vor Perret war. Finde ich nun diesen Stadtteil schöner als das Zentrum? Zu Beginn meiner Reise hätte ich diese Frage mit Ja beantwortet. Nun bin ich mir nicht mehr sicher.
Le Havre geniessen
Über Schönheit und städtebauliche Grundprinzipien zu sinnieren macht hungrig. Besonders gemundet hat es mir im Restaurant Le Fleur de Sel (50 Quai Michel Fère). Ich war hier zum Mittagessen und fand sowohl die Vorspeise als auch das Dessert hervorragend.
Zu Zeiten von Boudin und Monet war Le Havre ein aufstrebendes Seebad. Aufgrund der Hafenanlagen und Raffinerien wurde Le Havre der Status als «Seebad» weggenommen. Zu stark waren die damit verbundenen Verschmutzungen von Luft und Wasser. Heute ist Le Havre wieder ein «Seebad» und trumpft mit einer tollen Seepromenade auf. An schönen Abenden treffen sich die Havrais hier, setzen sich auf die feingeschliffenen Kiessteine und bewundern das allabendliche Spektakel des Sonnenuntergangs. Hier an der Küste herrscht auch im Mai Aprilwetter. Das Licht und Wolken wechseln alle paar Minuten. Statt mit Leinwand und Pinsel, halte ich die Stimmung mit der Kamera fest. Boudin wäre bestimmt stolz auf mich.
Weitere Tipps für deinen Städtetrip nach Le Havre
- Ich bin mit dem TGV via Paris nach Le Havre gereist. Die Reisezeit dauert knapp sieben Stunden
- Mit Blick auf den Vulkan schläft man im Hotel Oscar (im Stil von Perret) oder vis-à-vis im ARThotel. Ich fand das Oscar charmanter, hatte aber im ARThotel ein tolles Eckzimmer im sechsten Stock mit dem wohl besten Blick auf den Platz
- Le square Saint-Roch ist eine grüne Oase mitten im Stadtzentrum. Die Jardins Suspendus liegen ausserhalb vom Zentrum in der ehemaligen Zitadelle oberhalb von Saint-Adresse mit tollen Blick auf die Stadt.
- Für hippe Boutiquen und schräge Läden das Quartier Saint-Vincent ansteuern
Hinweis: Mit diesem Beitrag nehme ich am French City Award 2016 teil. Die Reise wurde von Frankreich Tourismus und Le Havre Tourismus unterstützt. Alle Eindrücke sind meine eigenen.
Danke für den tollen Bericht!
Le Havre ist ein Traum – und Deine Fotos und der Bericht machen richtig Lust, mal wieder hinzufahren! Ich war 2013 dort und hatte mich auf den Volcan gefreut, da ich Niemeyer so mag. Damals war aber alles gesperrt und vergammelt und man begann gerade mit der Renovierung. Vor lauter Bauzäunen konnte ich da gar nichts sehen.
Oh Schade! Die neue Bibliothek im Vulkan ist echt sehenswert, somit ist es also definitiv an der Zeit, nochmals nach le Havre zu reisen ;)
Bisher fand ich beim Betrachten der Stadtansichten nicht unbeding Lust, die Stadt kennen zu lernen. Nach diesem Blog hat sich das grundlegend geändert ! Compliment für den interessanten Bericht!
Liebe Iga, das freut mich! Mich hat Le Havre mit seinen ganz verschiedenen Facetten auch ungemein positiv überrascht :)
Le Havre,
die blogs entfachten in mir einen völlig neuen Eindruck als den, den ich seit meht als 30Jahren in mir trug. Seither hatte ich niemehr den Wunsch nach Le Havre zu fahren. Nun bin ich neugierig geworden und werde mir das «neue» Le Havre anschauen.
Bonjour,
Un bien bel article agrémenté des belles prise de vues. Vous avez tout comme moi les mêmes émotions architecturales. Plus particulièrement avec l’église Saint Joseph.
Bravo pour cet article.
Cordialement
Eric