Wer hätte gedacht, dass die Stadt Thun in Nordwest-England eine Schwesterstadt hat, mit der sie eine architektonische Besonderheit – die „Rows“ – teilt. In Thun befinden sich die Hochtrottoirs in der Oberen Hauptgasse und laden zu einem gemütlichen Schaufensterbummel ein. In Chester erstrecken sich die mittelalterlichen zweistöckigen Einkaufsgalerien entlang des historischen Stadtkerns. Ich hatte vor Jahren auf einer Stadtführung in Thun davon erfahren und irgendwie hat sich dieses Wissen in meinem Gehirn festgesetzt. Bei der Reisevorbereitung für Liverpool und Umgebung stolperte ich über das mir bekannte Chester, das sich unweit von Liverpool an der Grenze zu Wales befindet. Von der Grösse und Distanz her ein ideales Ausflugsziel für eine Halbtagestour ab Liverpool. Bei strahlendem Sonnenschein machte ich mich somit auf den Weg, um mir die Hochtrottoirs von Chester in live anzusehen. Die Fahrt von Liverpool James Street bis nach Chester dauert rund eine Stunde. Dabei tuckert der Vorortszug durch die idyllische Landschaft der Wirral Halbinsel.
Die Rows
Nach einem zehn minütigen Fussmarsch ab dem Bahnhof stehe ich vor dem Eastgate Tor. Der imposante Glockenturm ist leider zu Renovationszwecken gerade eingerüstet. Nichtsdestotrotz macht die Einkaufsstrasse mit den spätmittelalterlichen Tudorstil Fassaden einen schicken Eindruck. Nicht alles ist so, wie es scheint und manch eine Fassade wurde nachträglich in den ursprünglichen Tudorstil eingepasst. Den Touristen scheint’s trotzdem zu gefallen. Chester ist ein beliebtes Ausflugsziel in der Region und in den Einkaufsstrassen wuselt es nur so von Gästen. Mein Fazit: 1:0 für Thun – dort wirkt der Gesamteindruck authentischer.
Die tausendjährige Kathedrale
Dafür punktet Chester bei mir mit der Kathedrale. Die Ursprünge des imposanten Bauwerks reichen tausend Jahre ins frühe Mittelalter zurück. Inmitten der Kathedrale befindet sich ein lauschiger Rückzugsort. Die meisten Besucher werfen zwar einen Blick in den Kreuzgang, kaum einer findet jedoch den Durchgang zum Innenhof. Was für ein paradiesischer Ort! Ausser dem Plätschern des Brunnens und dem Vogelgezwitscher durchdringt kein Stadtlärm die dicken Kirchenmauern. Rund um den Brunnen sind Sitzbänke unter Schatten spendenden Sträuchern angeordnet. Das perfekte Plätzchen, um sich in aller Ruhe in ein Buch zu vertiefen oder schlicht und einfach den prickelnden Sonnenschein zu geniessen. Ich hätte hier ohne Probleme den Rest des Nachmittags vor mich hin trödeln können, doch der Lockruf der anderen historischen Sehenswürdigkeiten rund um Chester war stärker.
Mauerrundgang
Gerade bei diesem Bilderbuchwetter bietet der Mauerrundgang die perfekte Route, um die Kleinstadt aus verschiedenen Perspektiven kennenzulernen. Chester gehört nämlich zu den am besten erhalten ummauerten Städten Englands. Die Ursprünge der Stadtmauer datieren 2‘000 Jahre in die Zeit der Römer zurück. Aus dieser Epoche gibt es auch noch die Überresten eines Amphitheaters zu besichtigen. Der Mauerrundgang führt einmal quer um den alten Stadtkern. Mit den vielen Auf- und Abgängen besteht immer mal wieder die Möglichkeit, den Mauerrundgang zu verlassen. Als Pferdemädchen und fleissige Leserin der Dick Francis Krimis ist der Blick über die Chester Pferderennbahn – die älteste und kleinste Rennbahn Englands – mein persönliches Highlight. Wie es hier wohl an Renntagen zu und hergeht? Auch sehr schön präsentiert sich an diesem Sonnentag die Uferpromenade des River Dee. Zudem locken mich immer mal wieder Farbtupfer wie Türen am Albion Place weg von der Mauer rein in die Quartiere. So dauert mein Rundgang geschlagene zwei Stunden und gegen Ende befürchte ich, mir in der gleissenden Nachmittagssonne einen Sonnenstich eingefangen zu haben (gemäss dem gängigen Klischee hätte es ja wohl eigentlich in Strömen schütten müssen). Deshalb genehmige ich mir zum Abschluss des kurzen Abstechers nach Chester eine Abkühlung in der Porta Tapas Bar, die sich beim Northgate Tor direkt an die massiven Stadtmauern schmiegt.